Jüdische Identität: Mehr als nur Religion

Frisia Judaica

Fünferscheibe von Ido Abram
Lizensiert gemäß Alle Rechte vorbehalten von Ernst Sittig

In verschiedenen Publikationen wird oft über die „jüdische Religion“ oder den „jüdischen Glauben“ gesprochen. Doch auch Bilder von Synagogen und Friedhöfen sowie der koschere Metzger sind Ausdruck von Religion. Das ist verständlich, denn wenn wir das jüdische Leben in Ostfriesland betrachten, sind dies die einzigen Spuren, die noch übrig sind.

Das führt dazu, dass „der Jude”, sowohl damals als auch heute, ausschließlich als Repräsentant einer Religion gesehen wird. Zu Unrecht, denn dies ist nur ein Aspekt unter vielen. Aus christlicher Sicht vielleicht verständlich, aber jüdisch sein ist mehr als das! Und das war schon vor der Schoah1 so, also in der Zeit, die das Netzwerk „Jüdisches Leben in Ostfriesland“ im Rahmen des Online-Portals „Frisia Judaica“ so gut wie möglich sichtbar gemacht wird.

Was aber ist dann ein Jude? Anstatt einen langen Artikel zu schreiben, stütze ich mich auf die Definition jüdischer Identität12, also das Selbstbild, wie sie von Ido Abram3 z”l 19824 formuliert wurde.

Es ist eine Definition, die die meisten Juden für sich selbst nachvollziehen können. Das Modell wird oft als „Fünferscheibe“ bezeichnet, eine Anspielung auf eine Werbekampagne der niederländischen Ernährungsagentur5. Aber anders als die Zutaten einer gesunden Mahlzeit sind die fünf „Tortenstücke“ hier für jeden unterschiedlich groß und verändern sich im Laufe der Zeit.

Noch eine Ergänzung meinerseits: Das Wort Glaube ist ein typisch christlicher Begriff. Einer unserer Rabbiner sagte einmal: „Ob du an G*tt glaubst oder nicht, ist ausschließlich eine Sache zwischen dir und dem Höchsten Wesen (falls es ein Höchstes Wesen gibt).“

Man konnte und kann auf viele verschiedene Arten jüdisch sein, von ultra-orthodox bis völlig säkular. Es gab und gibt bekannte jüdische Humanisten6 und sogar radikale Atheisten,7 die dennoch vollständig jüdisch waren und sind. Das Ausmaß, in dem sich eine Person mit der jüdischen Kultur verbunden fühlt, wird von vielen Faktoren bestimmt.

Fünf Aspekte der jüdischen Identität

Fünf Aspekte, die auf die eine oder andere Weise im Leben jedes Juden eine Rolle spielen, sind:

  • Religion, Tradition und Kultur
  • Israel,8 persönlicher Zionismus und politischer Zionismus
  • Schoah, Antisemitismus, Verfolgung und Überleben
  • Persönliche Lebensgeschichte und eigene Erfahrungen
  • Die Wechselwirkung zwischen jüdischer und nationaler Kultur

Es hängt von der Person, dem Ort, an dem sie lebt, und der Zeit, in der sie lebt, ab, wie viel Gewicht jeder Aspekt hat. Jeder Aspekt hat Gewicht. Im Laufe des Lebens kann das Gewicht dieser Aspekte variieren.

I. Religion und Tradition

Religion und Tradition sind die ältesten und waren lange Zeit die einzigen Merkmale jüdischer Identität. Sie bilden die Grundlage des Judentums. Es hat aber schon immer nichtreligiöse Juden gegeben. Auch wenn sich einige aus dieser Gruppe an (einige) religiöse Gebote halten.

II. Die Verbindung zu Israel und dem Zionismus

Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 wurden die Juden über die ganze Welt verstreut. Die Verbindung zum Land Israel ist immer geblieben und wird von jedem Juden auf seine eigene persönliche Weise ausgedrückt. Manchmal durch Alija,9 manchmal durch Kritik an der politischen Situation.

III: Krieg, Verfolgung und Überleben

Die massenhafte organisierte Verfolgung und Vernichtung von sechs Millionen Juden vor und während des Zweiten Weltkriegs hat eine große Wunde hinterlassen. Selbst für Juden, die den Krieg nicht selbst miterlebt haben, bleibt dieser Aspekt ein prägendes Merkmal ihres Lebens.

IV.Persönliche Lebensgeschichte

Die Entwicklung, die jeder Mensch, jeder Jude, auf der Grundlage von Erfahrungen sowie auf der Basis seiner eigenen Fähigkeiten durchläuft, bestimmt wer er ist. Diese persönliche Entwicklung ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die sowohl individuelle als auch kollektive Erlebnisse umfassen.

V. Wechselwirkungen zwischen jüdischer und nationaler Identität

Es hat immer eine Wechselwirkung zwischen der jüdischen Minderheit und der nicht-jüdischen Umwelt gegeben. Jeder Jude muss sein eigenes Gleichgewicht im Umgang mit diesen beiden Kulturen finden. Der Grad der Anpassung an die Mehrheit oder die Beibehaltung der eigenen jüdischen Identität ist eine persönliche Entscheidung.

Ido Abram fasst es wie folgt zusammen: Die Formel und die Scheibe beziehen sich auf die jüdische Identität des Einzelnen und nicht auf die der Gruppe. Viele denken fälschlicherweise, dass nur Segment I (jüdische Religion) die jüdische Identität definiert und dass nur ein religiöser Jude eine jüdische Identität besäße. Nichtreligiöse Juden haben jedoch ebenfalls eine jüdische Identität, die in den dargestellten Erfahrungsbereichen wurzelt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die jüdische Identität vielfältig und vielschichtig ist. Sie reicht weit über die religiösen Aspekte hinaus und umfasst Tradition, Kultur, die Verbindung zu Israel, die Erfahrungen von Krieg und Verfolgung, sowie die persönliche Lebensgeschichte und die Wechselwirkung mit der nationalen Kultur. Diese verschiedenen Elemente formen zusammen das Selbstverständnis eines jeden Juden und können sich im Laufe der Zeit verändern. Das Modell der „Fünferscheibe“ von Ido Abram bietet eine hilfreiche Perspektive, um die unterschiedlichen Facetten der jüdischen Identität zu verstehen und zu schätzen. Jede dieser Facetten trägt auf ihre Weise dazu bei, das reiche Mosaik der jüdischen Erfahrung zu bilden.

Ernst Sittig

 

Fußnoten:

  1. Schoah: Hebräisch für „Katastrophe“. Der Begriff, der in jüdischen Kreisen üblicherweise für den Holocaust verwendet wird. ↩︎
  2. Identität bedeutet hier: wie Sie sich selbst sehen. Dies steht im Gegensatz zum Image, der Art und Weise, wie die Außenwelt Sie sieht. ↩︎
  3. Prof. Dr. Ido Abram (Batavia, 1940 – Amsterdam, 2019) war ein niederländischer Mathematiker, Erziehungsberater und Professor für Holocaust-Erziehung an der Universität von Amsterdam. ↩︎
  4. Z”L: hebräische Abkürzung von „zichrono liwracha“, sein Andenken sei ein Segen. Für Frauen „zichrona liwracha“, ihr Andenken… ↩︎
  5. Der „Schijf van Vijf wurde 1953 von der niederländischen Behörde für Ernährungsinformation eingeführt. Die Scheibe umfasste die folgenden Lebensmittelgruppen:
      Milch und Milchprodukte
      Gemüse, Obst, Kartoffeln
      Fleisch, Fisch, Käse, Eier und Hülsenfrüchte
      Fette
      Getreide und Getreideerzeugnisse wie Brot ↩︎
  6. Das offensichtlichste Beispiel ist Baruch de Spinoza (1632 – 1677). 
    In jüngerer Zeit wurde eine formalisierte Bewegung namens „Jüdischer Humanismus“ gegründet.  ↩︎
  7. Z.B. Golda Meir, die vierte Premierministerin Israels, identifizierte sich kulturell stark mit dem Judentum, war aber ansonsten eine ausgesprochene Atheistin. Eine ihrer berühmten Aussagen, mit der sie dies zum Ausdruck brachte, lautet: „Ich glaube an das jüdische Volk, und das jüdische Volk glaubt an Gott“. ↩︎
  8. Auch schon vor der Gründung des Staates Israel (1948).Siehe Psalm 137 (6. Jahrhundert vor dem üblichen Zeitalter): 
    Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren. ↩︎
  9. Aliyah: Auswanderung nach Israel ↩︎
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